Martin Buber

Ich betrachte einen Baum

Ich kann ihn als Bild aufnehmen: starrender Pfeiler im Anprall des Lichts,
oder das spritzende Gegrün von der Sanftmut des blauen Grundsilbers durchflossen.
Ich kann ihn als Bewegung verspüren:das flutende Geäder am haftenden und strebenden Kern,
Saugen der Wurzeln, Atmen der Blätter,unendlicher Verkehr mit Erde und Luft -
und das dunkle Wachsen selber.

Ich kann ihn einer Gattung einreihen und als Exemplar beobachten, auf Bau und Lebensweise.
Ich kann seine Diesmaligkeit und Geformtheit so hart überwinden,
dass ich ihn nur noch als Ausdruck des Gesetzes erkenne -
der Gesetze, nach denen ein stetes Gegeneinander von Kräften sich stetig schlichtet,
oder der Gesetze, nach denen die Stoffe sich mischen und entmischen.

Ich kann ihn zur Zahl, zum reinen Zahlenverhältnis verflüchtigen und verewigen.
In all dem bleibt der Baum mein Gegenstand...

Es kann aber auch geschehen, aus Willen und Gnade in einem, dass ich, den Baum betrachtend,
in die Beziehung zu ihm eingefasst werde, und nun ist er kein ES mehr...

Vielmehr ist alles, Bild und Bewegung, Gattung und Exemplar, Gesetz und Zahl,
mit darin, ununterscheidbar vereinigt. Alles, was dem Baum zugehört,
ist mit darin, seine Form und seine Mechanik, seine Farben und seine Chemie,
seine Unterredung mit den Elementen und seine Unterredung mit den Gestirnen,
und alles in einer Ganzheit... Er hat mit mir zu schaffen, wie ich mit ihm - nur anders...

Beziehung ist Gegenseitigkeit. So hätte er denn ein Bewusstsein, der Baum, dem unsern ähnlich?
Ich erfahre es nicht.

Aber wollt ihr wieder, weil es euch an euch geglückt scheint, das Unzerlegbare zerlegen?
Mir begegnet keine Seele des Baums und keine Dryade, sondern er selber.

Aus: Martin Buber, Das dialogische Prinzip, S.10ff ,
Verlag Lambert Schneider, Heidelberg, 5.Aufl. 1984.
(Dryade, griech.: Baumgeist)