Bernhard von Clairvaux (1090-1153)
an seinen früheren Mönch Papst Eugen III.:

"Wo soll ich anfangen? Am besten bei Deinen zahlreichen Beschäftigungen,
denn ihretwegen habe ich am meisten Mitleid mit Dir.
Ich fürchte, daß Du, eingekeilt in Deine zahlreichen Beschäftigungen,
keinen Ausweg mehr siehst und deshalb Deine Sinne verhärtest:
daß Du Dich nach und nach des Gespürs
für einen durchaus richtigen und heilsamen Schmerz entledigst.

Es ist viel klüger, Du entziehst Dich von Zeit zu Zeit
Deinen Beschäftigungen, als daß sie Dich ziehen
und Dich nach und nach an einen Punkt führen,
an dem Du nicht landen willst.
Du fragst: an welchen Punkt?
An den Punkt, wo das Herz hart wird.
Frage nicht weiter, was damit gemeint sei:
wenn Du jetzt nicht erschrickst, ist Dein Herz schon so weit.

Das harte Herz ist allein;
es ist sich selbst nicht zuwider, weil es sich selbst nicht spürt.
Was fragst Du mich?
Keiner mit hartem Herzen hat jemals das Heil erlangt,
es sei denn, Gott habe sich seiner erbarmt
und ihm, wie der Prophet sagt, sein Herz aus Stein weggenommen
und ihm ein Herz aus Fleisch gegeben (Ez 36,26).

Wenn Du Dein ganzes Leben und Erleben völlig ins Tätigsein verlegst
und keinen Raum mehr für Besinnung vorsiehst,
soll ich Dich da loben?
Darin lob' ich Dich nicht.
Ich glaube, niemand wird Dich loben, der das Wort Salomons kennt:
'Wer seine Tätigkeit einschränkt, erlangt Weisheit' (Sir. 38,25).
Und bestimmt ist es der Tätigkeit selbst nicht förderlich,
wenn ihr nicht die Besinnung vorausgeht.

Wenn Du ganz und gar für alle da sein willst,
nach dem Beispiel dessen, der allen alles geworden ist (1. Kor. 9,22),
lobe ich Deine Menschlichkeit - aber nur, wenn sie voll und echt ist.
Wie kannst Du aber voll und echt Mensch sein,
wenn Du Dich selbst verloren hast?
Auch Du bist ein Mensch.
Damit Deine Menschlichkeit allumfassend
und vollkommen sein kann,
mußt du also nicht nur für alle anderen,
sondern auch für Dich selbst ein aufmerksames Herz haben.
Denn was würde es Dir nützen,
wenn Du - nach dem Wort des Herrn (Mt.16,26) - alle gewinnen,
aber als einzigen Dich selbst verlieren würdest?

Wenn also alle Menschen ein Recht auf Dich haben,
dann sei auch Du ein Mensch,
der ein Recht auf sich selbst hat.
Warum solltest einzig Du selbst nichts von Dir haben?
Wie lange bist Du noch ein Geist,
der auszieht und nie wieder heimkehrt (Ps. 78,39)?
Wie lange noch schenkst Du allen anderen Deine Aufmerksamkeit,
nur nicht Dir selber!

Ja, wer mit sich selbst schlecht umgeht,
wem kann der gut sein?
Denk also daran:
Gönne Dich Dir selbst.
Ich sage nicht: Tu das immer,
ich sage nicht: Tu das oft,
aber ich sage: Tu es immer wieder einmal.
Sei wie für alle anderen auch für dich selbst da,
oder jedenfalls sei es nach allen anderen."

 

(aus: B. von Clairvaux, Gotteserfahrung und Weg in die Welt.
Hrsg. B. Schellenbergen, Otto Walter Vlg. Olten 1982)