Auszug aus: "Ungewollte Kinder", Annäherungen, Beispiele, Hilfen, rororo Sachbücher Nr. 1690/9673, Hamburg 1994, bearbeitetet

VERÄNGSTIGTE KINDER IN EINER GROSSEN WELT

GEZEUGT DURCH VERGEWALTIGUNG

"Meine Mutter wurde 1945 auf der Flucht von einem russischen Soldaten vergewaltigt. Als sie merkte, daß sie schwanger war und es meiner Großmutter berichtete, sagte diese: 'Das Kind kann nichts dafür; du kannst nichts dafür; wir bringen das Kind schon groß'. So wuchs ich bei Mutter, Großmutter und Großvater auf." ...

WILLKOMMEN ZUM SEIN - WILLKOMMEN ZUM WACHSEN

Im Dunkel des Mutterleibs beginnt das Leben des Kindes, seine Erfahrung mit dem Leben, mit sich und der Welt. In der Begegnung mit Mutter in ihrem Körper geschieht die erste Kontaktaufnahmen des Kindes. Was die Mutter tut, ißt, trinkt, fühlt, denkt und spricht, nimmt das Kind auf und verarbeitet es bei seinem Wachsen . Ihr Gehen, Stehen, Liegen, ihre Liebe, Angst, Interessen, Kämpfe sind Lebensraum des Kindes. Für das Ungeborene ist sie das Universum. Hier geschieht die Einstellung auf die Welt. Alle späteren Erfahrungen und Lebenseinstellungen ruhen wie ein Haus auf diesem Fundament.

Sowohl der Vater - ob abwesend oder anwesend - , als auch die Gesamtfamilie beider Eltern und die Gesamtgesellschaft sind durch die Mutter gegenwärtig... Mutter und Vater sind Schicksal für das Kind, in das es sich einfügt. Sie sind Gegenstand einer bedingungslosen Liebe...

Ohne uns Zeit und Umstände aussuchen zu können, bekommen wir das Leben, die Eltern, die Geschwister und die Welt. Mutter,Vater und Welt begrüßen ihr Kind manchmal freundlich und manchmal rauh und feindlich, je nach den Umständen, äußeren Ereignissen wie Krieg und Not und persönlicher Situation der Eltern. Sie verdienen Achtung...

WAS DACHTE MUTTER, ALS SIE ES MERKTE?

Der gesamte Fühlhorizont der Mutter, bzw. des Paares und seiner Herkunftsfamilie wird vom Kind wahrgenommen und greift in sein Leben ein. Manchmal lassen Träume Strukturen vorgeburtlichen Lebens erkennen... Wer als Therapeut Klienten begleitet und ihre Lebensgeschichte kennt, kann merken, wenn sie aus der vorgeburtlicher Zeit kommen.

Ein Klient erzählte: "Ich träumte, ich war der Führer meiner Oma und meines Opas in einer Höhlenwelt. Es ging durch bizarre Landschaften über Hindernisse und Gefahren. Meine Großeltern waren auf mich angewiesen, und wir mußten uns beeilen. Ich weiß nicht, ob wir schnell von irgendetwas weg oder schnell irgendwohin wollten. Ich glaube, letzteres. Es war nicht mein Ziel, sondern das meiner Großeltern. Wir kamen zu einem unterirdischen See. Ein Boot lag am Ufer lag. Wiir bestiegen es. Mit ihm überquerten wir den See. Ich weiß nicht, wohin wir fuhren und wohin es weiter ging..." Der Traum enthüllt eine kleine Tragödie, die sich für das Ungeborene in seiner Höhle abspielte, und die bis heute dem Erwachsenen Probleme beschert.

Der Klient berichtete unter anderem von Ereignissen vor seiner Geburt: Die Mutter wurde schwanger, als der Vater eine Freundin hatte, mit der er schon länger ein Verhältnis hatte. Der jungen Mutter kamen Ängste: Würde der Vater des Kindes sich ihr zuwenden? Da nahmen die Eltern der Mutter die Angelegenheit in die Hand. Sie sagten dem werdenden Vater: 'Du wirst unsere Tochter nicht mit dem Kind sitzen lassen.' Noch bevor das Kind geboren wurde, heirateten die Eltern. So kam die Reise über den unterirdischen See mit Hilfe der Großeltern eilig zum Ziel. Das Kind war Führer und Ehestifter zusammen mit den Großeltern. Trotz der für das Kind guten Lösung blieb eine Unruhe. Er wusste nicht, 'wohin wir fuhren und wohin es weiterging.'

Der Klient berichtete ein anderes Mal, daß seine Mutter und sein Vater mehrfach eine übereinstimmende Geschichte erzählten: Vater brachte Mutter zur Entbindung ins Krankenhaus. Auf dem Wege dorthin trafen sie die frühere Freundin des Vaters. In dem Gespräch mit ihr tat der Vater so, als habe er die Mutter gerade zufällig auf der Straße getroffen, und als seien sie nicht verheiratet und gerade auf dem Weg ins Krankenhaus zur Geburt ihres Kindes. Das Kind 'wußte nicht, wohin wir fuhren und wohin es weiter ging', ein Problem des Erwachsenen bis zu diesem Zeitpunkt...

VATERSCHAFT UND MUTTERSCHAFT

Die Zeugung ist heute für viele Menschen nicht mehr Naturereignis, das mehr oder weniger zufällig während des Liebesakts geschieht. Was in früheren Jahrhunderten mehr oder weniger hingenommen wurde, steht heute zur Disposition. Neben den medizinischen Möglichkeiten gibt es eine veränderte Einstellung der Paare zur Machbarkeit von Leben, zur persönlichen Freiheit...

Das Paar, letztlich die Mutter, prüft und trifft Entscheidungen für oder gegen das Leben des Kindes. Die Frau hat die eigentliche Verfügungsgewalt über das werdende Leben. Dem Mann ist die Entscheidung, ob er Vater werden will, entzogen. Der Zeugungsakt kann von der Frau verhindert werden oder kann ohne Partner mit Hilfe einer Spermabank vollzogen werden. Männer können zu Statisten werden...

EINE VERSUCHTE ABTREIBUNG

"Neulich, als ich die flackernde Neonreklame sah und dann in meine Wohnung kam, überfiel mich panische Angst: das Haus könnte abbrennen, am Elektroherd könnte Feuer ausbrechen, der Kühlschrank könnte explodieren, durch mein Fenster im dritten Stock könnte jemand die Scheiben einschlagen und einsteigen. Jedes Geräusch im Treppenhaus machte mir Angst, jemand würde die Tür aufbrechen. Ich mußte immer wieder den Herd kontrollieren, ob er ausgestellt war. Ich mußte die Vorhänge schließen, daß kein Licht von der Straße hereinfiel. Ich mußte immer wieder die Wohnungstür prüfen, obgleich ich wußte, daß ich sie abgeschlossen hatte. Warum mache ich das? Bin ich verrückt? Ich weiß, daß da nichts ist, aber ich habe Angst zu sterben."

Dem Klienten bricht der Schweiß aus. Er zittert am ganzen Leibe. Plötzlich bricht eine Erkenntnis ein: "Sie wollte mich umbringen, und ich war in ihrem Bauch. Ich spinne, dies kann doch nicht wahr sein. Jahrelang habe ich diese schrecklichen Panikgefühle. Meine besten Freunde sagten: 'Da ist doch gar nichts. Es gibt kein Feuer in deiner Wohnung. Die Fenster und Türen sind zu und niemand kommt herein.' Jetzt verstehe ich: Ich sollte sterben. Selbst meiner Freundin kann ich nicht glauben, daß sie mich liebt." Er fährt fort: "Ich darf so etwas nicht von meiner Mutter denken. Sie war doch gut zu mir und sagte mir, daß sie mich liebe...

Sie sagte auch: 'Es war schwer damals; ich war in Scheidung von deinem Vater, und dann warst du plötzlich unterwegs. Ich war in Panik. Von diesem Mann wollte ich kein weiteres Kind. Ich habe versucht, dich los zu werden. Ich habe heiße Bäder genommen. Ich bin vom Stuhl gesprungen. Einmal hat mich dein Vater die Treppe hinuntergestoßen. Ich habe Getränke mit Gift getrunken, ich habe mir Gegenständen in die Scheide gestoßen; es hat nichts genutzt.' Ich kenne das Gefühl, als werde ich mit einem Stock gestoßen. Jetzt weiß ich, sie hat mich gestoßen. Immer denke ich, Feuer bricht in meiner Wohnung aus, und ich muß verbrennen.Vater und Mutter sagten:: 'Du bist ein unglücklicher Zufall. Wir bringen dich in ein Heim." Er weinte...

Er überlebte. Die Eindrücke von Einbruch in Sicherheit und Zugehörigkeit waren bis heute gegenwärtig.

AUS DEM 'BLICKPUNKT' DES KINDES

Die Medizintechnik gibt gute und manchmal makabre Hilfe zur Zeugung und Einpflanzung menschlichen Lebens oder zur Erhaltung gefährdeten Lebens. Leben um jeden Preis? Was für ein Leben werden Kinder haben, die unter manchmal schlimmen Umständen das Leben betreten? Manche Brutkasten-Kinder schafften es dank der Hilfe von Medizin, Technik und Pflege. Abwehrkästen gegen Schmerz umhüllen sie...

Alle fragen: Wie geht es den Eltern? Was können Mediziner tun? Wer fragt nach der Perspektive und dem Erleben des Kindes? Jedes ersehnt das sichere Nest, das ihm physisch, psychisch, sozial und geistig Unversehrtheit bietet. Von Beginn an, d.h. seit seiner Zeugung, ist sein Platz seine angestammte Familie, die es mit Wohlwollen begleiten soll. Das Kind erwartet von der leiblichen Mutter und dem leiblichen Vater Unversehrtheit, Liebe, Förderung zum Wachsen und Entfalten ohne übermäßigen Schmerz. Darf man es auch sterben lassen?...

Die Welt ist voller verängstigter Kinder. Ohne Väter fühlen sie sich ausgesetzt und suchen ein Leben lang das kindhafte Glück, einen Vater gehabt zu haben, für Mädchen und Jungen eine unterschiedliche Erfahrung. Die Mütter sind in Psychotherapien allgegenwärtig. Da sie die ersten Kontaktpersonen waren und die Kinder ins Leben begleiteten, haben Kinder mit ihnen viel erlebt. Die fehlenden Väter müssen häufig erst 'gefunden' werden.

ELTERNSCHAFT: EINE SCHICKSALSGEMEINSCHAFT BEGINNT

Die Bezogenheit der Kinder auf die Eltern macht Elternschaft einmalig, risikoreich und anspruchsvoll. Das Ungeborene ist in einer unverbrüchlichen Liebes- und Schicksalsgemeinschaft mit ihnen. Störungen des Lebensflusses bringen merkwürdige Leiden hervor, für deren Symptome, Syndrome und Phobien die Medizin und Psychologie tausend verschiedene Bezeichnungen erfinden.

Könnte man die Quelle überflüssigen Leids verstopfen, gäbe es mehr Glück und Gedeihen. Selbst dann gäbe es genug nicht vermeidbares Leid... Insbesondere nötig sind Väter und Mütter, die sich vom Tag der Zeugung an mit dem neuen Leben freuen und Zeit für Kinder haben....

Im Raum der Wahrnehmung des Kindes sind Heuchelei und Lüge dem Kind gegenüber in der Wirkung schlimmer als schmerzliche Wahrheiten. Wenn es mitten in den Problemen einer Familie Herzlichkeit und Achtung gibt, bleibt die Welt für das Kind gut. Wenn eine Familie eine heile Welt vortäuscht, wird sie für das Kind zu einer 'Friede-Freude-Eierkuchen-Welt', in der Gutes nur Schein ist. Das Kind braucht Vergewisserung... Bin ich willkommen, und haben meine Eltern Freude an meinem Wachsen und Glücklichsein? ...

Vom Kind wird Trennung von den Eltern oft als Schlag gegen seine Liebe und sein Leben erlebt. Ersatzeltern sind für das Kind eine Notlösung. Die zeugenden Eltern, die die Eizelle und den Samen geben, durch die das Kind entsteht, begründen eine Schicksalsgemeinschaft...

Das gezeugte Kind fügt sich in den Lebensraum der Mutter und des Vaters ein bis hin zum Opfer seines Leben und seines Glück für diese Eltern und ihre Sippe. Diese Gemeinschaft beginnt unabhängig davon, ob ein Paar das will oder damit einverstanden ist. Sie bleibt wirksam auch bei Trennung, Scheidung, versuchter Abtreibung, Samen- oder Eispende und Leihmutterschaft...

Seit dem Verlassen der Steinzeit und dem Beginn der alles revolutionierenden Kulturzeit vor 10.000 Jahren sind Kinder, Frauen, Männer und die Gesamtgesellschaft auf einem Suchweg nach sich selbst: Wo und was ist Glück und Gedeihen des Lebens? Die Stimmen von Freude und Leid helfen zur Weisheit des Findens.